Lars Landers

10 | Schlick in meinen Händen

Schlick in meinen Händen

»Warum bist du hier?«
»Ich wohne hier.«
»Ich meine: hier auf diesem Planeten!«
»Biologisch? Weil es meine Eltern miteinander getrieben haben!«
»Ist das alles?«
»Ich bin müde, gestern Abend ist es ganz schön spät geworden.«
»Ich bin auch müde.«
»Du warst doch gestern Abend gar nicht weg!«
»Meine Augen sind müde.«
»Wie meinst du das denn nun schon wieder?«
»Manchmal kommt es mir so vor, als würden die Dinge für mich an Farbe und Intensität verlieren. Alles verblasst um mich herum. Die Rose ist nicht mehr so rot, der Hundewelpe nicht mehr so süß, die Sonne nicht mehr so sonnig.«
»Ganz schön abgefahren. Klingt wie ne Krankheit der Augen.«
»Nicht schlecht, ich denke Langeweile ist eine besonders gefährliche Krankheit. Wahrscheinlich frisst sie gerade meine Seele auf.«
»Hat einen Vorteil. Du wirst leichter!«
»Wieso?«
»Beim Verlust der Seele reduziert sich das Leben um die Hälfte, beim Tod um 21 Gramm.«
»Aha …«
»Bin ich zu abgefuckt oder empfindlich?«
»Der Wald stirbt sauer, die Welt rüstet sich zu Tode und kein Arsch kümmert sich um den anderen. Was erwartest du also von mir?«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage!«

[…]

»Warum bist du denn gelangweilt?«
»Ich denke, dass ich alles schon erlebt habe. Ich habe gelebt, geliebt, bin gereist, habe alle meine Ziele erreicht. Vielleicht ist alles, was kommt, nur ein billiger Abklatsch. Was soll noch kommen?«
»Das ist doch das Schöne am Leben. Wir wissen nicht, was kommt.«
»Und wenn ich feststelle, dass alles nur ein Plagiat ist?«
»Plagiat passt hier nicht. Es ist doch dein Leben.«
»OK. Surrogat. Was ist, wenn ich immer weiter abnehme?«
»Dann verschwindest du. Du kommst aus dem Nichts. Du gehst ins Nichts. Was also hast du verloren? «
»Starker Tobak!«
»Es ist doch immer eine Sache des Blickwinkels.«
»Was meinst du damit?«
»Die Sache mit dem Wasserglas. Wenn du sagst, du bist gelangweilt, hört sich das für mich nach Unzufriedenheit an. Die Ursachen liegen in dir, deinen Einstellungen. Wenn die Sache mit dem Nichts für dich ok ist, ist das auch kein Thema für dich. Wenn die Sache dir zu schaffen macht, kannst du dich gern an ihr aufrauchen.«
»Da sind wir wieder am Ausgangspunkt. Warum bist du hier?«
»Keine Ahnung, um das Beste daraus zu machen?«
»Was ist das Beste?«
»Das ist doch deine Realität, deine Wahrheit!«
»Es gibt keine Realität oder Wahrheit. Nichts auf dieser Welt wird durch zwei Menschen gleich gesehen oder empfunden. Menschen machen gern irgendetwas krampfhaft zur allumfassenden Realität aus Angst, mit ihrer einsam und allein auf weiter Flur zu stehen,  und erzählen dir, dies oder das sei wahr. Was ist schon Wahrheit? Jeder hat seine eigene. Das wird aber nicht gesehen. Jeder will jeden überzeugen und seine Dinge zu denen von anderen machen.«
»Netter Versuch. Das ist doch genau der Punkt. Deshalb sprach ich von Deiner Realität und Wahrheit!«

[Pause]

»Manchmal wünsche ich mir, ich wäre stulle oder zumindest so dumm , dass ich es nicht merke!«
»Was soll das denn?«
»Ich wäre mit weniger zufrieden, hätte einen tiefergelegten GTI, ein blondes Mäuschen mit knackigem Po, und mein einziges Problem wäre, dass mein Nachbar dickere Ofenrohre unter seiner Karre hätte …«
»Blödsinn, dass würde dich dann vielleicht genau so runterziehen wie jetzt der Kalte Krieg, das nukleare Wettrüsten, der saure Regen oder dein Zynismus. Alles ist irgendwie heftig.«
»Hast du dir nie gewünscht, dümmer zu sein?«
»Nein. Ich bin gern so. Bin ich deswegen ein Narzisst?«
»Keine Ahnung. Aber wenn du anderen erzählst, du findest dich ok, wittern alle gleich Stallgeruch. Denk an Majas Vortrag neulich. Als sie sagte, dass sie nicht schlecht aussieht, gut gebaut ist, sich anzuziehen weiß und drei Sätze gerade heraus sprechen kann und nicht versteht, warum sie keinen Freund findet, wurden sie von allen hingerichtet. Jonathan hat sogar von narzisstischer Persönlichkeitsstörung gesprochen.«
»Man ist sofort in dieser Ecke. Das ist das miese Erziehungsprinzip in Deutschland, wenig loben, viel kritisieren, Kinder auffordern, sich an Besseren zu orientieren, höher, weiter, schneller …«
»Der ewige Leistungsdruck. Die scheiß Definition über Äußerlichkeiten. Mein Haus, mein Auto, mein Boot, mein Tennisclub, meine, Karriere, Titel, Frau, Kinder …. Meine Krankheiten, Ängste, Sorgen, Schulden und Geliebte werden gern vergessen. Ganz zu schweigen von dem, was einen Menschen wirklich ausmacht.«
»Jupp, und genau in dieser Reihenfolge. Wir lernen nicht, uns selbst zu mögen, zu lieben. Bei Liebe haut man uns sowieso voll in die Ecke des Narzissten!«
»Ja.«
»Die Zukunft noch nicht fürchten, die Vergangenheit noch nicht bereuen. Kind sein.«
»Ich möchte nicht noch einmal Kind sein, die ganze Scheiße noch mal durchmachen.«
»Ich auch nicht, aber ich würd gern so alt bleiben wie jetzt.«

[…]

»Magst du dich?«
»Nur über meinen Anwalt!«

[Schweigen]

»Warum bist du nun hier?«
»Ich habe mal gelesen, der Sinn des Lebens ist der, den wir ihm selbst geben. Daran glaube ich. Der Sinn wandelt sich.«
»Was ist denn zurzeit dein Sinn?«
»Ich möchte einmal am Ende zurückschauen und sagen, dass ich alles richtig gemacht habe, nichts bereue, aber aus einer Ex-ante-Sicht. Ex-post wissen wir eh immer alles besser, posthum kann es uns vollkommen egal sein.«
»Das ist keine Antw ort, du weichst aus!«
»Kann sein. Vielleicht weiß ich es nicht. Warum müssen wir auch immer alles verstehen, warum können wir die Dinge nicht einfach so stehen lassen?«
»Weil der Sinn deines Lebens dich trägt, und du ohne seinen Namen wie ein Vollhirn durch die Gegend irrst, weder deinen Weg noch nach Hause findest!«
»Ok, mal anders herum. Warum bist du hier?«
»Um dich zu nerven. Spaß beiseite. Ich weiß es auch nicht. Biologisch ist das Ding mit der Herkunft klar. Wahrscheinlich gibt es gar keinen übergeordneten Sinn im Leben, außer dem, sich zu vermehren. Vielleicht geht es tatsächlich nur um Urtriebe. Da die meisten in Deutschland keine existenziellen Probleme mehr haben, wenden wir uns aus Zeitluxus und Überfluss den essenziellen Dingen zu. Meinst du, wir würden hier sitzen und palavern, wenn du wie vor hundert oder zweihundert Jahren einen kleinen Bauerhof mit Frau und Kindern hättest, um vier Uhr morgens aufstehen müsstest, um abends um sieben Uhr total erledigt ins Bett zu fallen und nicht zu wissen, ob du deine Ernte durchbringst, ob du deine Pacht bezahlen und deine Familie ernähren kannst? Wenn es normal ist, dass mindestens eines deiner Kinder vor dir stirbt?«
»Wahrscheinlich nicht …«
»Siehst du, vielleicht ist das die Krux und der Grund für meine Augenkrankheit. Deswegen verschwindet meine Seele, und ich löse mich ins Nichts auf. Ich langweile mich eben.«
»Die Seele will sich weiterentwickeln. Sie sucht die Unzufriedenheit, weil die zufriedene Seele ruht. Aber ich bin jetzt echt müde.«
»OK, ich haue schon ab.«
»Scheiße, Alter, reite kein totes Pferd! Ich hau mich jetzt wirklich hin.«
»Machs gut.«
»Eins noch, eine alte Kriegslist besagt: Umarme deine Feinde, sodass sie regungslos sind!«
»Ja und?«
»Vielleicht solltest du dich mal selbst umarmen!«

[Pause]

»Ich nehm noch einen!«
»Ja, kipp hinter.«
»Ahhh, das tut gut.«
»Ich schenk nach.«
»Bist’n Freund.

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