Lars Landers

Kapitel 02

34.KW, Freitag, 10.00 Uhr

»Ach, nein, Herr Schmidt!?«
»Guten Morgen, Nicole.«
»Frau von Baumgarthen, bitte.«
»Guten Morgen.«
»Guten Morgen, Herr Schmidt.«
[Schweigen]
»Warum haben sie sich bei Frau Radow unter, ich schau noch mal auf die Karte, Herrn Thanotius angemeldet?«
»Und hab gleich wieder einen Termin bekommen…«
»Das war nicht meine Frage.«
»Nein, bloß meine Feststellung, scheint noch nicht gut zu laufen, Nicole!?«
»Frau von Baumgarthen, bitte.«
»Türlich.«
»Also?«
»Na ja, ich hatte wohl Schiss, dass ich keinen Termin mehr kriege oder die Steuerfahndung hier wartet.«
»Aha.«
»Außerdem wollte ich sehen, ob dir bei dem Namen etwas auffällt.«
»Was hätte mir denn auffallen sollen?«
»Thanotius, Thanatius, …«
»Thanatos?«
»Treffer!«
»Was wollen sie mir dadurch sagen?«
»Na, Gott des Todes als Gynäkologe fand ich originell.«
»Was ist daran originell?«
»Mann, geht das schon wieder los?«
»Was geht wieder los?«
»Die Wiederholungsscheiße, Nicole.«
»Frau von Baumgarthen.«
»Tschuldigung.«
»Also?«
»Was also?«
»Was finden sie an diesem Bild originell?«
»Ach darüber möchte ich nicht sprechen.«
»Ich habe eine Bitte, Herr Schmidt. Ich würde mich freuen, und sehe es auch als Arbeitsgrundlage mit ihnen an, dass sie sich ab sofort immer unter ihrem Pseudonym Schmidt anmelden.«
»Warum?«
»Ich möchte nicht bei jedem neuen Klienten überlegen, ob nicht sie durch die Tür kommen!«

[Schweigen]

»Abgemacht.«
»Schön, worüber möchten sie denn sprechen?«
»Ficktief!«
»Fiktiv?«
»Nein, mit ck und ief und gleich wieder aufschreiben, Nicole.«

[Schweigen]

»Fühlen sie sich im Moment soweit wohl, Herr Schmidt?«
»Klar doch, wieso?«
»Sie sitzen die ganze Zeit auf der Vorderkante des Stuhls und wippen mit den Fußspitzen.«
»Das heißt, Kopfdoktor?»Frau von Baumgarthen, bitte. Es können Zeichen von Unsicherheit und dem Wunsch nach Flucht sein.«
»Nee, nee.«
»Wollen sie wirklich hier sein?«
»Warum?«
»Nur wenn sie eine Notwendigkeit für sich erkennen, hier sein, sich beraten, begleiten oder einfach auch nur erst einmal reden zu wollen, können wir etwas erreichen.«
»Ich will hier sein. Aber helfen kannst du mir eh nicht. Will nur reden.«
»Okay, was wollen sie mir mit ficktief sagen?«

[Schweigen]

»Ich bin ganz tief in die ganzen, ganzen…Fotzen eingedrungen, beruflich und privat. Immer und immer wieder. Sie waren überall. Ich konnte nicht mehr entkommen.«
»Und?«
»Vielleicht wollte ich etwas raus finden, etwas erforschen, hinter etwas gelangen…«
»Was haben sie denn gesucht?«
»Ein Geheimnis?…Keine Ahnung.«
»Sind sie deswegen hier, wollen sie das jetzt für sich klären?«
»Nee.«
»Warum sind sie zu mir gekommen?«

[Schweigen]

»Nich immer so intellektuell…Ich will übers Ficken reden.«
»Wieso?«

[Schweigen]

»Mensch, die ganze Scheiße, die ganze Zeit über…Ja, Frau Soundso, nein, Frau Soundso, das ist so, Frau Soundso, machen sie sich keine Sorgen, das kriegen wir schon wieder hin, ist alles nicht so schlimm, alles wird gut…Verdammt dieser ganze elaborierte, medizinische, gesellschaftshöfliche Scheißendreck…Nie konnte ich sagen, was ich wollte.«
»Was wollten sie denn sagen.«
»Mensch, du blöde Kuh, wasch dich, rasier dich vorher mal ordentlich, ich hab keinen Bock, mich durch deinen dreckigen Busch zu wühlen, genießt du das jetzt, hast du dir vorm Ficken keine Gedanken über die Folgen gemacht, musstest du mit der abgebrochenen Gurke unbedingt zu mir kommen? Ich hab keinen Bock auf diese Bilder, hau ab. Nerv andere.«
»Dieses Bild haben sie von ihren Patientinnen?«
»Verdammt, du hast doch keine Ahnung, wer sich da immer wie auf den Stuhl legt…Das sind nicht immer schüchterne, arme Hausfrauen, denen es unangenehm ist, sich die Latexfingern reinstecken zu lassen. Das ist doch Bildniveau. Da sitzt der ganze Querschnitt der Gesellschaft…Aber am schlimmsten sind die Gelangweilten, die Frustrierten, die aus der Vorstadt, die Gleichgültigen.«
»Und die sind zu ihnen gekommen, zu einem Gynäkologen?«
»Na, Kur- und Badeärzte gab es bei uns nicht…Ja, zu mir, weil ich immer so schön zugehört und jaja, oh, nein wirklich, wie schlimm gesagt und Anteilnahme geheuchelt habe.«
»Und darüber wollen Sie jetzt sprechen, etwas los werden, sich mitteilen? Ist das ihr Thema?«
»Nenn es, wie du willst, Kopfdoktor, ich habe so ein Riesenscheißdrecksgeschwür in mir…Das muss endlich raus…Raus schneiden kann ich es nicht, es sitzt zu tief im Kopf, oder ich schneid ihn gleich ab…Wegsaufen hat nich funktioniert…Die Scheiße schwimmt oben, so gut wie die DLRG…Die Rentner auf Teneriffa haben immer nur gekünzelt gehustet und den Tisch gewechselt. Ja, schreib, das alles nur auf, schreib es alles in dein verdammtes Heft, Nicole.«
»Sie konnten ihre Gedanken mit niemandem teilen, nicht mit ihrer Frau oder Freunden?«
»Nein.«
»Haben sie sich nicht getraut oder waren die anderen dafür nicht empfänglich?«

[Schweigen]

»Beides…Alle sind doch nur mit sich selbst und ihrem erbärmlichen Leben beschäftigt, ist doch voll der Egoshooterscheiß hier.«
»Aha, aha, okay, sehr gut, mit welchem Geschwür wollen sie anfangen?«
»Was ist daran denn gut?«
»Dass sie sich öffnen wollen. Es ist ein Anfang…«
»Scheiße, meine Geburt war der Anfang von meinem beschissenen Leben.«
»Wollen sie über ihre Kindheit reden?«
»Lass die Freudkacke, Nicole. Du hast ja nich mal eine Couch.«
»Würden sie sich gern hier hinlegen?«
»Blödsinn.«
»So kommen wir nicht weiter.«

[Schweigen]

»Ist doch wurscht, ich zahle, ich kotze mich aus.«
»Aha, wenn sie das so bezeichnen wollen, okay.«

[Schweigen]

»In der letzten Sitzung haben sie davon berichtet, dass sie mit der Frau ihres besten Freundes geschlafen haben. Ist das wichtig, ein Thema für sie? Wollten sie darüber mit mir sprechen?«
»Fleißig, fleißig, Kopfdoktor, schön Notizen gemacht.«
»Frau von Baumgarthen, bitte.«

[Schweigen]

»Warum ich Bettina gefickt habe?...Es war der 45igste von Gerd. Bettina ist doch schon ein Scheißname. Nomen est omen. Die alte geile Sau hatte mir Silvester schon voll besoffen an den Sack gepackt und mir ins Ohr geflüstert, ich würde mich doch bestimmt mit Mösen gut auskennen. Auf ’m Geburtstag habe ich es ihr dann schön besorgt…Volle Kanne, großes Programm im Kinderzimmer und hab mir dabei die Krakelbilder der Tochter an der Wand angesehen. Ich hab sie so durchgerammelt, dass die ganzen verfickten Plüschtiere vom Bett gehopst sind…«
»Herr Schmidt, können sie das auch anders ausdrücken?...Oder hilft es ihnen, auf diese Weise ihr Geschwür zu verkleinern?«
»Ne, is nich, genau so, nich anders.«
»Okay, okay. Vielleicht kann sich das noch ändern.«
»Was denn?«
»Dass sie über alles mit Verachtung zu reden scheinen, auch über ihre eigene Person.«

[Schweigen]

»Nachdem ich sie voll durchgefickt hatte, und ich musste ihr dabei auch noch den Mund zu halten, damit sie das Haus nicht zusammen schreit, haben wir voll verlogen wieder alle auf der Terrasse zusammen gesessen, während es aus ihr raus lief.«

[Schweigen]

»Was ist ihnen wichtig an dieser Geschichte?«
»…Keine Ahnung.«
»Gab es einen Grund, warum sie mit, Moment bitte, Bettina, geschlafen haben?«
»Einen Grund?«
»Ja, warum?«
»Weil sie ’ne geile Fotze ist?«
»Wollten sie jemanden verletzen?«
»Nee, aber nich doch.«
»Wollten sie sich selbst wehtun oder Brücken einreißen?«
»Keine Ahnung, nee, nee…Bestimmt nicht.«
»Waren sie von ihrem Freund enttäuscht, hatte er sie verletzt?«
»Alle Achtung, Kopfdoktorchen, …Nee, war alles okay mit Gerd.«
»Wollten sie vielleicht ihre Freundschaft zerstören, oder war es ein Hilferuf?«
»Nach was denn?«
»Das wollen wir herausfinden.«
»Nee, nee, das will ich nicht, ich will nur das Geschwür loswerden.«
»Aha, aha.«
»Aha, aha, ist das alles?«»Was wünschen sie sich denn?«
»Dass der Dreck weniger wird.«
»Dreck oder vielleicht eher Druck von ihnen nehmen?«
»Wurscht…Die Scheiße muss aufhören. Deswegen bin ich hier.«

[Schweigen]

»Okay, Herr Schmidt, ich denke, dass das für heute reicht.«
»Aber wir haben doch noch gar nicht richtig angefangen.«
»Haben wir das nicht? Sehen sie das so?«

[Schweigen]

»Na, dann bis zum nächsten Mal, Nicole.«
»Frau von Baumgarthen, bitte.«

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