Lars Landers

Der Kleine Wassermann

Der kleine Wassermann

»Da isser!«
»Ist ein Junge.«
»Puh, ist der hässlich!«
»Mensch, der trägt ja ne Pelzmütze, Mann, so dichtes, schwarzes Haar, sieht man nicht alle Tage!«
»Los, den Klaps auf den Po!«
»Nun schneid mal jemand die Nabelschnur durch!«
»Ist die Plazenta vollständig?«
»Wer wäscht ihn?«
»Ist die Mutti ok?«
»Gib ihn ihr doch mal!«
»Schädel ist in Ordnung, trotz Zangengeburt!«

Ich habe keinen blassen Schimmer, unter welchen Umständen ich das Licht dieser Welt erblickte. Wo und wann steht in meinem Personalausweis. Es war in einer Kleinstadt südlich von Hannover in Niedersachsen. Meine Mutter sagt, es sei um 10.45 Uhr gewesen. Im Mutterpass stehen 56 cm und 3.780 Gramm. Alles Weitere muss ich mir zusammenspinnen. Vielleicht liegt die Erinnerung wenigstens in meinen Zellen, wenn ich mir meine Geburt schon nicht in mein Gedächtnis rufen kann. Damit fing doch schließlich alles an.

Jede Geburt soll ein Schock für das Baby sein. Also fängt alles mit dem Geburtsschock an. Wahrscheinlich wollte ich im Bauch meiner Mutter bleiben. Da wird es schließlich angenehm warm gewesen sein, ich kannte mich aus und bekam das Rundum-Sorglos-Paket. Wann hat man das im weiteren Leben denn noch einmal? So wurde aus der ersten Verbundenheit gleich auch die erste Trennung. Ein Bewusstsein hatte ich noch nicht. Aber Wahrnehmen konnte ich immerhin schon, erst war es warm, dann kalt, hell, laut, kalte Hände, die mich nach der Trennung von meiner Mutter erwarteten und in denen ich herumglitschte. Vielleicht habe ich die Aufregung der Erwachsenen gespürt. Von all dem da draußen – und ich war schon mittendrin – hatte ich überhaupt keine Ahnung. Wann habe ich wessen Stimme, was wahrgenommen? Es gab noch keine Erinnerungen, Überlegungen, Vorstellungen, Einschätzungen, Beurteilungen, Pläne und Konzepte. Allein die Aufzählung ist schon anstrengend.

Letztlich wurde ich ungefragt in die Welt katapultiert. Geborgen und behütet stecke ich als Holzpfeil zusammen mit meinen Brüdern und Schwestern im Köcher. Es geht mir gut. Ich werde herausgezogen, auf den Bogen gelegt, die Sehne wird gespannt. Und man feuert mich wuchtig in den dunklen Wald hinein, dem darin verborgenen Feind entgegen. Nach einem langen Flug ins Ungewisse schlug ich irgendwo hart in der Baumrinde ein und steckte schon mitten drin im Schlamassel. Hier war sie also, die Außenwelt, und ich verloren im weiten, dunklen Wald.

Ich hatte keine Ahnung, was passierte, konnte keinen Einfluss nehmen, habe vielleicht nur rumgebrüllt und war dieser neuen Welt, verdammt noch mal, vollkommen ausgeliefert. Ich steckte zwar nicht wirklich in der Baumrinde, war aber schon umringt vom Desaster, während die Wellen über mir zusammenschlugen und mich überfluteten.

Vielleicht erlebte ich hier auch meine ersten Verluste. War ich doch gerade aus diesem wohligen und friedvollen Moment im Mutterleib in die neue, unbekannte Krankenhauswelt übergeglitten. Hatte ich Momente neuer Kontakte und Wärme zum Krankenhauspersonal geknüpft, so wurde ich dieser stets wieder beraubt und von Hand zu Hand weitergereicht. Was wusste ich schon über Räuber und Diebe! Würde ich jemals diese nette Person wiedersehen? Werde ich das alles hier so ganz allein in meiner Wiege in irgendeinem Raum überhaupt überleben? Wahrnehmungen über Wahrnehmungen, Fragen gab es ja noch nicht und natürlich erst recht keine Antworten, aber dafür jede Menge purer Emotion.

Ich war, existierte also und hatte offensichtlich den Willen, mich dem Unbekannten zu stellen. Was blieb mir auch anderes übrig? Haben Sie es anders gemacht? Natürlich war mir zu diesem Zeitpunkt nicht bewusst, was da alles auf mich zukäme. Wahrscheinlich ist es überlebenswichtig, die eigene Zukunft nicht zu kennen. Ja, ja, ich weiß, so denkt und spricht ein Baby nicht. Verzeihung!

Meine Geburt stand im Zeichen des Wassermannes. Ein wichtiges Zeichen! Es wird von Bedeutung sein.

»Wassermänner lieben die Tiefe«, las ich als junger Mann in einem Horoskop in der Wochenzeitung. Natürlich glaube ich nicht an Horoskope und lese sie deswegen auch nicht. Das ist so wie mit bestimmten Nachmittags- oder Vorabendsendungen, die nie jemand gesehen haben will, aber jeder kennt. Es gab Anfang der 90er-Jahre eine Sendung mit Hugo Egon Balder, eigentlich Egon Hugo Balder, aber egal. Tutti Frutti war die erste erotische TV-Show im deutschen Fernsehen. Die kannte auch niemand, aber alle wussten bestens Bescheid über die Spielregeln und natürlich das leicht bekleidete »Ballett Cin Cin« aus Zitronen, Erdbeeren und so. Irgendeinen Bezug musste der Name der Sendung zum Glücks- und Ratespiel ja haben, das nur den Striptease zur Folge hatte, den die Bürgerinnen und Bürger der Republik in ihren Mittagspausen- und an Stammtischengesprächen als skandalös verdammten. Legendär waren die Musikeinlagen mit Hugo am Klavier und Mikrofon. Die Republik war nicht mehr im Zaum zu halten.

Also, die Sache mit den Wassermännern und der Tiefe sollte mich noch lange genug beschäftigten. Als Kind hatte ich von all dem natürlich keinen blassen Schimmer. Das Sternzeichen des Wassermanns bringt einen Nachteil mit sich. Es ist nicht möglich, einen Geburtstag zusammen mit Freunden beim Grillen im Garten oder im Freibad zu feiern. Zur Auswahl stehen vielmehr Kinobesuche, Rodeln, unfallträchtiges Sackhüpfen und Topfschlagen im Kinderzimmer bei eisigen Außentemperaturen. Die Geschenkvielfalt fällt aufgrund der gerade eingetretenen Feiertagssättigung nach opulenten Weihnacht- und Silvesterorgien leider geringer als bei einem im Sommer geborenen Kind aus, der Geiz obsiegt. Das ist nicht nett, sage ich Ihnen.

Durch diese und andere Mängel ist es für den älter werdenden Wassermann unausweichlich, so habe ich mir zumindest eingeredet, auf innere Werte zu setzen, mich an kalte Umgebungen zu gewöhnen, meiner Vorhersehung gemäß die Tiefe zu suchen und frohen Herzens hinabzutauchen. Immer tiefer hinab. Bis zum Grund. Während ich als Tiefseetaucher in eigener Sache in der Dunkelheit des Meeresgrundes unterwegs war, beneidete ich immer wieder die Sonnenk inder an der Oberfläche. Ich trieb in den Untiefen der Seen und Meere mein Unwesen und blickte doch immer wieder nach oben. Ach, wäre das schön gewesen, mit den anderen dort oben zu spielen. Die Strahlen der Sonne und das ausgelassene Jauchzen der Kinder luden mich immer wieder ein, ich lehnte natürlich ab. Schließlich war meine Suche die große Herausforderung, das Abenteuer, meine Mission. So verblieb ich, mich selbst beschneidend wie ein Franziskanermönch, am Meeresboden, den ich nie als meinen Ankergrund aus den Augen verlieren wollte. Na, wie hätte ich auch zurückfinden sollen. Sollten sich die Kinder dort oben doch in ihrer Oberflächlichkeit sonnen und aalen. Der Wassermann war der wahre Abenteurer dort, wo es undurchsichtig, einsam und kalt ist. Die spärliche Zahl derer, die mittauchten, war ebenso wie ich mit sich selbst und ihren Sinn- und Sinktauchaktionen ungewissen Ausgangs beschäftigt. Meinem Verlangen, mich einfach nach oben treiben zu lassen und mitzuspielen, begegnete ich mit Verachtung für die Oberflächlichkeit meiner Mitmenschenkinder, ohne zu wissen, was ich tatsächlich wollte. Ich hatte absolut keine Ahnung und wohl einfach auch nur Schiss.

Der kleine Wassermann brauchte Liebe als tägliche Nahrung für sein seelisches Wachstum. So tat ich alles Mögliche, um geliebt zu werden. Oft knüpfen Erwachsenen ihre Liebe an Bedingungen und antworten bei vermeintlichem Versagen des Kindes mit Liebesentzug. Wenn sie lächelten, hatte ich alles richtig gemacht und wiederholte es – Sie wissen schon, ich war hungrig nach Liebe – blickten sie zornig drein, hatte ich wohl etwas falsch gemacht. Leider passierte mir diese Sache mit der Herdplatte zu oft. Wenn es in der Familie rauchte, das Kriegsbeil ausgegraben wurde und jemand am Marterpfahl stand, packte ich meinen kleinen Plastikwerkzeugkoffer und versuchte, mit Faxen und Lächeln zu reparieren. Wenn es allen gut ging, dann würde es ja auch mir gut gehen und die Liebe fließen. Das war ganz schön viel für mein kleines Herz. Meine Werkzeuge waren nicht genormt, passten überhaupt gar nicht und brachen zu allem Überfluss auch noch ständig ab. Ich hatte ja auch gar keine Ausbildung und vor allem, wie gesagt, keine Ahnung.

Der kleine Wassermann zog derweil immer wieder seine Bahnen auf dem Meeresgrund und war weiterhin ganz schön neidisch. Egal, sollten die da oben doch vergnügt spielen. Ich hatte Wichtigeres zu tun.

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