Lars Landers

11 | Auftauchen

Auftauchen

»Wassermänner lieben die Tiefe« las ich einmal in einem Zeitungshoroskop, ein anderes Mal stand es als Aufdruck auf einem Handtuch, das ich zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Das Handtuch war marineblau. Der stilisierte Wassermann sah mit seinem Dreizack richtig süß aus, kein bisschen Furcht einflößend. Zu dem Geschenk gehörte auch ein kleines Buch über die Eigenschaften des elften von zwölf Sternzeichen. Das habe ich noch heute. Demnach wurde mit zugeschrieben, dass ich oft ruhig wirke, träumend vor mich hin lebe, auf Entdeckungstouren gehe, immer etwas Neues erleben möchte, dabei meine Ideen und Fantasien verfolge und mich selten voll und ganz auf Menschen einlasse. Dass mir oft die Zeit fehlt, meine Träume auch zu verwirklichen, ich viele Freunde habe und die Kontakte für immer neue Anregungen brauche. Leider laufe ich vor meinen Problemen weg, treffe nicht gern Entscheidungen und verschließe die Augen, wenn es schwierig wird. Ich versuche, über den Dingen zu stehen, was mich oft überheblich, rechthaberisch und arrogant wirken lässt. Mein typisches Merkmal ist die Freiheit, um mich ausleben und entfalten zu können. Ich kann einer Partnerin sehr treu sein, was nicht heißt, dass ich ein Familienmensch bin. Ich träume und lebe lieber vor mich und bin immer für eine Überraschung gut. Eine meiner Lieblingsbeschäftigungen ist, das Gefühlsleben anderer Menschen zu untersuchen.

Trotz des Sonnenscheins in seinem Leben saß der Wassermann wieder einmal auf dem Meeresgrund im Schlick und ließ den Schlamm durch seine Finger gleiten. Die aufgewühlten Partikel tanzten um mich herum. Wirbellose, unerforschte Bodenlebewesen wurden durch mein gelangweiltes Fingerspiel aufgewühlt und unfreiwillig mit den Sedimenten vermischt. Das Gestein, auf dem ich saß, fühlte sich härter, das Wasser kälter an als sonst. Die Meeresoberfläche war in weite Ferne gerückt. In meinen Ohren rauschte Musik. Die Töne erinnerten mich an einen melancholischen Song von David Bowie von 1980, »Ashes to Ashes«.

Ich schlug meine Augen wieder auf. Ich tanzte auf unserer Szeneparty im Keller des ehemals besetzten Hauses. Aus den Boxen kam tatsächlich David Bowie, und es war eine Angewohnheit von mir, beim Tanzen die Augen zu schließen, wenn ich mich unbeobachtet fühlte. Unsere Wave-Gothic-Party hatte sich mittlerweile etabliert und war zum monatlichen Standardtermin in der Szene geworden. Nach dem Lied schlenderte ich zur Theke und beobachtete wieder einmal die Gäste. Etwas war mir in letzter Zeit immer mehr aufgestoßen. Wahrscheinlich war es noch nie anders gewesen und hatte mich früher angezogen: Niemand lächelte, niemand lachte. Gefühlsregungen zu zeigen, war in dieser Szene nicht angesagt. Im klassischen Sinn hübsch sein wollen, war auch keine glückliche Attitüde. Es war eher cool, sich den Lippenstift wie Robert Smith von The Cure um den Mund herum zu verschmieren und das Gesicht maskenhaft traurig zu schminken. Als die Gothic-Szene den ursprünglichen Geist des New Wave, die für mich Aufbruchsstimmung, Kreativität und viel Positives in sich hatte, immer mehr verdrängte, rückte Uniformität und zur Schau gestellte Melancholie immer weiter in den Vordergrund. Die Klamotten waren ohne Ausnahme schwarz, Kreuze und geschminkte Spinnweben zierten Gesichter und Körper. Es galt immer häufiger als cool, zu Hause in einem Sarg zu schlafen. Das war nicht mehr meine Welt. Vielleicht war ich einfach auch nur älter geworden und konnte mit der nachrückenden Generation in der Neonwelt nichts anfangen. Vielleicht hielt ich es ein wenig mit Sokrates, der seinerzeit vor 2.400 Jahren bereits Schwierigkeiten mit der Jugend hatte. Generationenproblem, wurde ich spießig?

Ich lebte im Kopf, zerlegte, analysierte, setzte passende Teile zusammen und sortierte unpassende aus. Letztere hatten die Angewohnheit, immer zurückgespült zu werden. Wo war mein Herz? Wann war ich denn einmal lustig und unbeschwert? Hier an diesem Abend waberte ich zwischen Menschen herum, die es sich verboten hatten, Freude zu zeigen, und war selbst nicht anders. Sie litten und wollten leiden. Ich auch? Wollte ich nicht schon immer viel lieber vergnügt an der Meeresoberfläche mit dem quietschbunten, aufblasbaren Wasserball in der Mitte der Juchzenden spielen?

Silvester legten Marius und ich Platten in unserem Veranstaltungskeller auf einer Feier unter Freunden auf. Um Mitternacht ging ich nicht mit Anna nach oben, um das Feuerwerk zu beobachten, wie es böse Geister vertreibt. Ich legte »Hells Bells« von AC/DC auf und lauschte den »Glocken der Hölle«. Verdammt, warum ging ich nicht einfach mit den anderen nach oben? Hier unten war niemand. Im neuen Jahr wurde mein Leidensdruck immer größer. Worauf wartete ich noch, auf eine Tür?

Während des Studiums an der FU hatte ich einen weiteren Freund gefunden. Felix war pragmatisch und hatte mit der Wave-Szene nichts am Hut. Ich fand damals nicht die richtigen Worte für das, was in mir vorging, aber irgendwie verstand er, worauf ich im Grunde hinaus wollte, oder handelte instinktiv. Ich wollte mich vergnügen, mich spüren, ohne mich für meine Oberflächlichkeit zu schämen und zu verdammen, raus aus dem Kopf der Erwachsenen, rein in die Glückseligkeit eines Kindes.

Felix leistete gleich am ersten Abend ganze Arbeit. Er führte mich ins Coconut im Kudamm-Karree. Vor dem Eingang standen zwei Türsteher in Schwarz, Hünen, die meinen Gruß ohne jegliche Reaktion abtropfen ließen. Auch hier ging es eine Treppe in den Keller hinunter, aber sie führte in eine komplett andere Welt als die, die ich kannte. Zum Glück hatte ich einen Führer dabei. Die Tür ging auf. Die Diskothek hatte einen Hauch von »Saturday Night Fever«. Popmusik regierte, Männer und Frauen tanzten wild in schrillen Farben. Später kam ich mit einem Kellner ins Gespräch, der vom Coconut schwärmte. Die Zeit wäre hier stehen geblieben. Polizisten, Banker, Versicherungsangestellte, Sekretärinnen und, wenn man lange genug bliebe, auch Zuhälter mit ihren Nutten gehörten zu den Gästen. Dabei zeigte er auf drei kleine, unbesetzte Tische, auf denen »Reserviert«-Schilder standen. Es gebe nie Ärger. Der DJ würde gegen ein Freigetränk auch Wunschsongs querbeet spielen. Nach anfänglichen Berührungsängsten konnte ich im Laufe des Abends meine Hemmschwelle überwinden und traute mich so gar auf die Tanzfläche. Die Musik war sehr ungewohnt und ich bewegte mich unbeholfen. Völlig baff war ich, als es zu vorgerückter Stunde inmitten des johlenden Publikums, zwischen den Männern und Frauen, die allabendliche Stripteasetanzeinlage gab.

Felix war eine Sportskanone und trainierte in einem kleinen Fitnessstudio, in das auch ich bald eintrat. Die vielen Muskelmänner schüchterten mich ein, offensichtlich gehörte ich nicht zu ihnen. Aber sie ließen mich wegen Felix in Ruhe – bei anderen war das anders. Samstagnachmittag begannen Felix und ich, Squash zu spielen, gingen in die Sauna und schauten danach bei ihm zu Hause auf Premiere die Fußballbundesliga. Wir waren beide Bayern München-Fans. Warum ich als Niedersachse Bayernfan wurde, weiß ich bis heute nicht. Vielleicht, weil Hannover 96 die meiste Zeit nicht in der Ersten Bundesliga spielte und Bayern einfach so erfolgreich war. Diese Stunden mit Felix wurden für mich mehr und mehr zu Phasen der Entspannung und des Loslassens. An den Schlick dachte ich immer weniger.

Ich tauchte auf. Endlich war ich an der Wasseroberfläche. Immer häufiger konnte ich vom Meeresgrund nach oben schwimmen, mich in der Sonne aalen und mit den anderen mit dem quietschbunten, aufblasbaren Wasserball spielen. Endlich entließ ich mich aus meinen eigenen Fesseln am Meeresgrund und blödelte an den Abenden, an denen wir ausgingen, einfach nur herum. Das tat gut. So vergingen einige Jahre, während derer ich bereits mit Anna zusammenwohnte.

Ich war ebenso wie Anna heilfroh, nach dem Referendariat das zweite Staatsexamen bestanden zu haben. Mit meiner Prüfung konnte ich jedoch keinen Blumentopf gewinnen. Anna hatte besser abgeschlossen.
Und wenn er nicht gestorben ist, […]. Hört sich doch alles gut an, oder? Aber so einfach ist das nun auch wieder nicht mit dem Schlick!

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